Im Augenblick wird im Web ein Thema in Bezug auf Second Life, OpenSim und andere virtuellen Welten sehr intensiv diskutiert. Die Grunddiskussion dreht sich dabei um diese Fragen:
- Wie sieht eigentlich das Metaverse der Zukunft aus?
- Hat Second Life und/oder OpenSim darin einen Platz?
- Hat Linden Lab darin versagt, aus dem Second Life der Jahre 2006/2007 das Metaverse zu erschaffen?
- Sollte man Second Life den Rücken kehren und sich anderen Plattformen zuwenden, wenn man beim Aufbau des Metaverse dabei sein möchte?
Der auslösende Blogpost kommt von Fleep Tuque (RL: Chris M. Collins) und wurde am 24. August gepostet. Die Überschrift ihrer Abhandlung lautet in etwa:
"Warum jeder mit einem Interesse am Metaverse Second Life hinter sich lassen muss; und zwar jetzt, nicht später"
Oder in Englisch:
"Why Anyone Who Cares About the Metaverse Needs to Move Beyond Second Life; Now, Not Later"
Grob zusammengefasst schreibt Fleep gleich im ersten Absatz, um was es ihr geht. "
Wenn wir zu eigenen Lebzeiten das Metaverse noch erleben wollen, dann müssen wir unsere Zeit, unser Geld, unsere Kreativität und unsere Ressourcen dafür investieren, es entstehen zu lassen. Es wird nicht von Second Life oder Linden Lab kommen und das Metaverse kann nicht warten."
Der gesamte Artikel ist sehr lang und liest man sich die Kommentare dazu auch noch in Ruhe durch, verstreicht locker eine Stunde. Deshalb ist mir eine adäquate Zusammenfassung auch nicht möglich. Fleep war, wie so viele in der Hype-Zeit von SL (2006/2007), ein enthusiastischer Anhänger der Idee, man gehöre zu den Pionieren des neuen Metaverse, ähnlich wie es Neal Stephenson in seinem Roman "Snow Crash" beschreibt. Fleep dachte, Linden Lab würde Second Life zu einer neuen Welt mit endlosen Möglichkeiten und Chancen für diejenigen gestalten, die bereit sind zu lernen, wie man sie nutzen kann.
In den Jahren von 2006/2007 gab es in Second Life auch viele andere Personen, die so dachten wie Fleep. Es schien alles möglich zu sein. Jeder experimentierte, lernte, hatte Visionen. Das Einloggen in SL war wie eine Droge und wo man auch hinteleportierte, fühlte man Aufbruchstimmung. Es führte sogar soweit, dass man dachte, eine bessere Welt zu erschaffen und mit dem so Erlernten auch die reale Welt zu einem besseren Ort machen zu können.
Doch das alles war einmal. Und Fleep vermisst, wie wahrscheinlich viele andere auch, den Drive den SL damals hatte. Die jüngste Entwicklung von Linden Lab und die Richtung, die sie für Second Life eingeschlagen haben, ist für Fleep eine bittere Ernüchterung. Linden Lab hat die Plattform nicht offener gestaltet, sondern immer mehr spezialisiert und den Kontakt zu den Nutzern abreißen lassen. Die ehemals mit IBM entwickelte Möglichkeit eines Intergrid-Teleports zu OpenSim, wurde nicht weiter verfolgt. Die Standardisierung von virtuellen Welten, wie etwa das VWRAP-Programm, nicht umgesetzt. Das Management wurde zweimal gewechselt und jedesmal wurde dabei SL auf eine andere Zielgruppe ausgerichtet. Jetzt seien es eben die Gamer. Unterm Strich scheinen sich Linden Lab und die Visionäre für den Bau einer neuen Welt komplett voneinander entfernt zu haben.
Und nach der Ankündigung von Linden Lab, Second Life als Paket auf der Gamer Plattform Steam anzubieten, ist nun Fleep der Ansicht, dass sich Linden Lab ganz von dem Ideal aus den Anfangstagen verabschieden wird. Der Fokus stehe nur noch auf gewinnbringende Unterhaltung und Verkauf virtueller Güter. Ein Metaverse der Zukunft wird mit Linden Lab damit gänzlich unmöglich sein. Und das bringt Fleep eben zur Ansicht, dass jeder, der das kommende Metaverse mitgestalten möchte, keine Energie mehr in SL investieren sollte. Verlassen bräuchte man SL dazu nicht (macht Fleep auch nicht), denn es sei immer noch eine spannende Geschichte und schließlich habe man sein Inventar, die Friendlist und die vielen schönen Orte. Aber das Metaverse wird wohl von anderen Plattformen geformt, wie OpenSim, Unity3D und weiteren neuen Technologien, die in den Startlöchern stehen.
In der Folge führt Fleep noch alle Nachteile auf, die gegen Second Life als Metaverse sprechen. Hohe Landkosten, keine Sicherungsmöglichkeit der eigenen Arbeiten, kein Zugang des Avatars zu anderen Plattformen und die Unsicherheit, dass Linden Lab irgendwann mal den Stecker zieht. Als Alternative führt Fleep dann OpenSim und das Hypergrid an, das heute dem Second Life aus frühen Tagen am nächsten kommen würde. Nicht geeignet seien allerdings die in sich geschlossenen OpenSim Grids wie InWorldz, SpotOn3D oder Avination, denn das wäre im Grunde nichts anderes, als SL.
Am Ende äußert sie dann noch einmal ihre Empfehlung, nicht länger das "Hoffen und Warten"-Spiel in Second Life zu spielen, sondern das Metaverse woanders aufzubauen.
An den Kommentaren zu diesem Artikel sieht man deutlich, dass viele mit diesen Ausführungen von Fleep übereinstimmen. Darunter auch einige bekannte Namen aus dem aktiven SL-Umfeld. Andere wiederum stimmen nur in Teilen zu und sehen nach wie vor für SL einen Platz in einem möglichen Metaverse der Zukunft. Und wieder anderen ist das Metaverse im Grunde völlig egal und sie sehen SL als einmalige Plattform, die immer noch jedem das ermöglicht, was er gerne machen möchte.
Insgesamt ist der Diskussionsstrang fast noch interessanter zu lesen, als der eigentliche Artikel (mit Außnahme der ewig streitsüchtigen Diskutanten zum Thema "SL vs. OS vs. illegaler Content"). Nimmt man dann noch die vielen Blogs dazu, die Fleeps Gedanken in eigenen Artikeln weiterführen (Links dazu siehe unten), dann habe ich das Gefühl, dass hier eine Thema angesprochen wurde, das viele irgendwo im Untebewusstsein wahrgenommen haben, aber bisher nicht so umfassend in Worten zum Ausdruck brachten.
Natürlich habe ich mir auch meine Gedanken dazu gemacht. Allerdings finde ich es schwer, meine persönlichen Vorlieben in SL und die globale Sicht auf ein Metaverse unter einen Hut zu bringen. Ich kann den Betrachtungen von Fleep auf jeden Fall zum Teil zustimmen. Als ich 2007 zu Second Life kam, habe ich auch die Erwartung gehabt, dass diese virtuelle Welt die Zukunft der 3D Webanwendungen sein würde. Ich war ebenfalls euphorisch und ging davon aus, dass SL immer weiter wachsen und irgendwann einmal untrennbar mit dem Internet verbunden sein würde. Ich hoffte auf Live-Konzerte vor tausenden von Avataren, dass jede Firma auf der Welt einen Sim in SL haben würde, dass ich im virtuellen Supermarkt meinen täglichen Einkauf mache und die Waren mir kurz danach an die Haustür geliefert werden, dass ich Erledigungen auf öffentlichen Ämtern irgendwann im virtuellen Nachbau meiner Stadt hätte machen können, usw. usf.
Aber so hat es sich eben nicht entwickelt. Und im Artikel auf New World Notes, in dem Wagner James Au auf Fleeps Betrachtung eingeht, spricht er davon, dass Linden Lab auch niemals die Absicht hatte, diesen Weg zu gehen. Dem stehen zwar viele Aussagen aus der Hype-Zeit von Philip Rosedale und Cory Ondrejka gegenüber. Aber richtig ist auch, dass im Alpha Stadium von SL, als es noch Linden World hieß, das Ganze zu einem Shooter Game ausgebaut werden sollte.
Zustimmen kann ich Fleep auch noch darin, dass im Management von Linden Lab viele Fehler gemacht wurden, die einer positiveren Entwicklung von SL eher im Weg gestanden haben. Gerade Mark Kingdon (M Linden) hat vielen mit seiner gescheiterten Geschäftskunden Politik die Hoffnung auf ein freies Metaverse genommen. Bei der Frage, ob nun SL generell nicht mehr als zukunftsfähiges Konzept geeignet sei, geht meine Sichtweise dann in eine andere Richtung, als im hier angesprochenen Artikel.
Second Life ist aktuell für mich immer noch die am weitesten entwickelte virtuelle Welt, die frei zugänglich ist. Es mag sein, dass daraus nie ein Teil des Metaverse wird. Aber ich sehe im Moment auch keine andere Plattform, die dazu mehr Potential hätte. Die Entwicklung von SL ist nicht so gelaufen, wie ich es mir vor fünf Jahren gewünscht hatte. Trotzdem habe ich die tatsächlichen Änderungen, die Second Life vollzogen hat, nie als negativ empfunden. Es war für mich immer spannend zu beobachten, wie neue Funktionen und Technologien Einzug gehalten haben und mehr oder weniger gut funktionieren. Dass nun Rod Humble versucht, SL für Gamer interessanter zu machen, stört mich ehrlich gesagt auch nicht. Denn die Möglichkeit kreativ in SL zu sein, wird dadurch ja nicht weggenommen.
SL hat sicher viele Macken und Schwachpunkte. Und unter der Leitung von Linden Lab wird es wohl auch keine Öffnung mehr zu anderen Plattformen geben. Aber ich bin selbst kein Pionier, der das Metaverse unbedingt mitgestalten möchte. Ich will einfach nur Abends nach der RL Arbeit etwas abschalten und mich der Immersion einer virtuellen Welt hingeben. Und da bietet mir Second Life alles, was ich dazu brauche. Das Metaverse, so wie es sich Fleep in ihrem Artikel wünscht, wird aus finanzieller und technischer Sicht noch lange Zeit nicht machbar sein. Also bleibe ich bei dem, was für mich dieser Vision am nächsten kommt.
Uff, eigentlich habe ich zu diesem Thema noch viele andere Gedanken. Ich bekomme sie nur nicht in verständliche Worte gepackt. Zum Abschluss vielleicht noch für alle, die bis hierhin nur Bahnhof verstanden haben, die (von mir übersetzte) Wikipedia Beschreibung des Begriffs "Metaverse". In der deutschen Wikipedia ist dieser Begriff noch nicht einmal vorhanden:
"Das Metaverse ist unsere gemeinsam genutzte Online-Umgebung, erschaffen durch die Konvergenz einer virtuell verbesserten physischen Realität und dem physikalisch dauerhaften virtuellen Raum, einschließlich der Gesamtheit aller virtuellen Welten, Augmented Reality und des Internet. Das Wort Metaverse ist ein Kunstwort aus dem Präfix "meta" (also "jenseits") und "Universum" und wird in der Regel verwendet, um das Konzept einer künftigen Entwicklung des Internet zu beschreiben, welches sich aus der Verbindung von dauerhaften, gemeinsam genutzten, virtuellen 3D Räumen zu einem wahrnehmbaren virtuellen Universum bilden wird."
"Der Begriff wurde in Neal Stephensons Science-Fiction-Roman Snow Crash von 1992 geprägt, wo Menschen als Avatare untereinander, und mit Software-Programmen, in einem dreidimensionalen Raum interagieren, der im übertragenen Sinne der realen Welt entspricht. Stephenson prägte den Begriff, um einen auf virtuelle Realität gestützten Nachfolger für das Internet zu beschreiben. Konzepte mit Ähnlichkeit zum Metaverse, erschienen unter einer Vielzahl von Namen im fiktionalen Cyberpunk-Genre beginnend mit der Novelle True Names im Jahr 1981."
Quelle: wikipedia.com
Und hier nun viele Links zum Thema. Einmal zum ursprünglichen Artikel und dann zu einer Welle von Reaktionen darauf in anderen Blogs:
Fleep Tuque (Fleep's Deep Thoughts):
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Why Anyone Who Cares About the Metaverse Needs to Move Beyond Second Life...
Botgirl Questi (Botgirl's Identity Circus):
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My take on the future of the Metaverse: If there has been a failure, it is ours
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More thoughts on the present and future Metaverse
Dr. Matthieu J. Guitton (Cyberbehavior and Cyberworlds):
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Comment: On the Metaverse
Wagner James Au (New World Notes):
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Second Life is Not the Metaverse -- But That's Not What It Was First Invented to Be
Honour McMillan (Honour's Post Menopausal View):
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Second Life, the Metaverse & Everything
Will Burns (Andromeda Blog):
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Snow Crashing
Darrius Gothly (DGP4SL Blog):
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Fleep’s Right-On Thoughts